#60
 
 

Vernebelt

by Hanno Hauenstein

Kreuzberg vor zwei Stunden. Ich bin auf dem Weg in die Uferhallen, dicke Nebelschwaden über der Schlesischen Straße. Was als Performance zu Sex-Arbeit angekündigt ist, entpuppt sich als öffentlicher bzw. halb-geheimer und trotzdem irgendwie öffentlicher Live-Stream-Chat. Die Frau der Stunde kniet auf einer inszenierten Matratze – im Video ein Bett – in der Mitte des Raums. Für Kunden, mit denen sie per Tastatur kommuniziert, zieht sie sich aus, berührt sich hier und da, räkelt Wunschpositionen. Die drum herum sitzenden 30 Galeriebesucher bleiben für jene Kunden, die sich natürlich als Teil einer hochprivaten Angelegenheit verstehen, unerkannt. Wer denkt, ich hätte da einer exaltierten Bricolage aus Voyeurismus und (politscher) Zwanglosigkeit beigewohnt, liegt nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Was sich erstrangig einstellt, ist ein Sinn dafür, wie herzlich unspektakulär und wohltuend sachkundig Sex-Arbeit und die sich anschließende Diskussion um sie sein kann. Auf dem Weg nach Hause denke ich: Absurd, die Anmaßung dieser (anderen) Diskussion, der Diskussion, die mit einem Namen besetzt ist den alle kennen, der Rhetorik der zweiten Welle: Zu meinen zu wissen wer Opfer und, überhaupt, emanzipationsunfähig sei. Wie schwere Schwaden hängt sie im Raum.

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